Zwischen Senf und Bambus. Ruhig Norman!

Manchmal sind es die kleinen Momente im Alltag, die uns etwas über das Leben lehren – ein kurzer Blick, ein Satz im Vorbeigehen, eine unerwartete Begegnung zwischen Senfregal und Kinderwagen.

Daniel Schaup

4/2/20252 min read

Vor einigen Tagen lief ich durch den Supermarkt, um noch schnell eine Kleinigkeit für das Abendbrot einzukaufen. In einem Seitengang stand ein junger Mann über einen Kinderwagen gebeugt, in dem das Kind lauthals schrie. Der junge Mann sagte mit einer sehr angenehm klingenden Stimme: „Ruhig Norman, ruhig Norman!“ Da genau in diesem Gang der Senf stand, den ich suchte, nahm ich das Glas aus dem Regal, wandte mich dann an den jungen Mann, der weiterhin „Ruhig Norman, ruhig Norman“ flüsterte und sagte ihm, wie ich seine Geduld mit dem Kleinen bewundere, der nicht aufhörte, den gesamten Markt zusammenzuschreien. „Was hat der kleine Norman denn“, fragte ich schließlich. Daraufhin schaute mich der Mann mit müden Augen an und sagte: „Er heißt nicht Norman. Norman bin ich!“

Langsam, sehr langsam schlug ich den Weg Richtung Kasse ein und wählte extra die längere Schlange. Als ich eingeklemmt zwischen einer Frau, die hektisch von einem Fuß auf den anderen wippte und einem Mädchen, das beinahe panisch auf ihrem Handy herumtippte, stand, erinnerte ich mich an die schöne Anekdote vom Bambus:

Ein Schüler fragte seinen Meister: „Meister, ich bete, ich meditiere, ich übe mich in Geduld – und doch verändert sich nichts. Warum dauert es so lange?“ Der Meister lächelte sanft und sagte: „Komm morgen früh in den Garten. Ich werde es dir zeigen.“ Am nächsten Morgen führte der Meister den Schüler zu einem Fleck im Garten, wo er vor Monaten Bambus gesät hatte. Sie standen lange schweigend da. Schließlich sagte der Meister: „Siehst du etwas wachsen?“ Der Schüler schüttelte den Kopf. „Nein, Meister. Da ist nichts.“ Der Meister nickte. „So ist es auch mit der Seele. Der Bambus wächst in den ersten fünf Jahren nicht sichtbar. Aber in diesen Jahren wächst er unter der Erde, er bildet ein starkes Wurzelwerk. Und dann, im sechsten Jahr, schießt er plötzlich bis zu 20 Meter in den Himmel.“ „Geduld“, fuhr der Meister fort, „ist das Vertrauen darauf, dass das Unsichtbare arbeitet. Dass deine Wurzeln wachsen.“

Norman arbeitet, so dachte ich, dort hinten im Gang zwischen Senf und Dill-Gurken an seiner Geduld, sie schlägt Wurzeln und das kleine, weinende Wesen im Kinderwagen wird von diesem Vater so viel lernen können wie der Schüler vom Meister, als er ihn über den Bambus belehrte.